Nachwuchsforschergruppe Kreativität und Genie
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Workshop an der LMU München: Die Maschine in der Dichtung

12.02.2021

Jan Niklas Howe und Johanna Charlotte Horst (Komparatistik) organisieren im Wintersemester 2020/2021 den Institutsworkshop der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LMU München. Das Thema heißt „Die Maschine in der Dichtung“.

Kann künstliche Intelligenz dichten? Es gibt Roboter, die täuschend echt in Rembrandt-Manier malen, Schachcomputer, die nicht nur klug, sondern originell spielen, Video-Bots, die künstlerisch akzeptable Musikvideos produzieren. Poetry Bots dagegen haben es schwer: Es besteht spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert Konsens darüber, dass dasjenige, was etwa ein Gedicht besonders macht, gerade nicht in der Befolgung von Regeln, also in der Reproduktion vorgegebener Gattungsmuster und Stilvorgaben liegt. So gilt ein häufig gebrauchtes Motiv bestenfalls als konventionell, schlimmstenfalls als kitschig. Weil Poesie in der Moderne maßgeblich über Originalität funktioniert, die nicht kalkulierbar ist, ist maschinelle Poesie schwer vorstellbar – entsprechend ehrgeizig ist das Vorhaben einer Artifical Creativity (du Sautoy).

Maschinelles Dichtens wird allerdings schon ab der Mitte des 20. Jahrhunderts gefordert, ohne dass dabei mit dichtender künstlicher Intelligenz gerechnet wird. Zur Steigerung poetischer Produktivität wird auf die Simulation technisch durchrationalisierter Verfahren gesetzt. Dabei verändern sich die ideologischen Valenzen der Mensch-Maschine-Konstellation: Defizient ist nicht die Maschine gegenüber dichterischer Schöpfungskraft, sondern der dichtende Mensch, dem das Bewusstsein für den technischen und reproduktiven Charakter seines Schreibens fehlt. Die Unterbrechung des poetischen Wiederholungszwangs sieht etwa Roland Barthes in der Ablösung des ‚écrivain‘ durch den ‚écrivant’: Im Gegensatz zum inspirierten Dichtergenie macht sich der Schreibende keine Illusionen über die konventionellen Präformationen seines poetischen Ausdrucks. Aus der Verweigerung gegen die Genieästhetik wird bei Gilles Deleuze der Wunsch des Dichters, „Maschine zu werden“: Es soll nicht eine Maschine menschlich dichten, sondern Dichtung selbst maschinell werden.

Für dieses theoretische Desiderat maschinellen Schreibens gibt es einen langen literarhistorischen Vorlauf: Bereits Harsdörffer experimentiert im Fünffachen Denkring mit Silbenkombinatorik als Grundlage poetischer Produktion. Als Maschinen lassen sich auch historische Regelpoetiken denken, die über Reimschemata, metrische Notwendigkeiten, stilistische Vorgaben oder Gattungscharakteristika unablässig im Inneren der Dichtung arbeiten. Hochkonjunktur hat die proto-maschinelle Kombinatorik in den klassischen Avantgarden, etwa in den Montagetechniken des Dada; in der écriture automatique versuchen die Surrealisten dichtendes Bewusstsein auszuschalten und Textproduktion an Kontrollverlust und Automatismus zu koppeln. Die oulipotische écriture sous contrainte zielt auf Ähnliches mit anderen Mitteln ab: Hier wird ein Schreibprozess installiert, der durch formale Beschränkungen und gerade nicht durch künstlerische Autonomie neue Forme hervorbringt.

Das poetische Phantasma, Maschine zu werden und in maschineller Poesie das Menschliche hinter sich zu lassen, lässt sich komplementär zum Phantasma kreativ schreibender künstlicher Intelligenz verstehen: Beide zielen auf eine transhumanistische Aufhebung der Unterscheidung von Mensch und Maschine und auf eine Automatisierung und Desakralisierung des kreativen Aktes. Wir möchten im Workshop nach beiden Spielarten maschinellen Dichtens fragen.

Beitragende: Florian Cramer, Robert Stockhammer, Hannes Bajohr, Charlotte Horst und Andrian Kreye.